Thema des Tages

06-07-2019 08:20

Gewitter ist nicht gleich Gewitter - die Multizelle, eine
Gewitterfamilie

Es vergeht kein Sommer ohne Gewitter. Sie treten in ganz
unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Im heutigen Thema des Tages
wird die Multizelle vorgestellt.

Nicht selten halten Gewitter die Warnmeteorologen des Deutschen
Wetterdienstes auf Trab, da sie oft recht unvermittelt entstehen,
plötzlich ihre Zugrichtung ändern oder sich wieder auflösen. Präzise
Gemeinde-genaue Gewitterwarnungen können daher meist erst relativ
kurz vor Eintreffen des Gewitters für Ihren Ort ausgegeben werden.
Völlig unberechenbar sind sie dennoch nicht. Bereits vor Entstehung
der ersten Gewitter kann man eine Analyse der "Zutaten" wie
Feuchtegehalt der Atmosphäre, Änderung von Wind und Temperatur mit
der Höhe sowie bodennahe Luftdruck- und Temperaturverteilungen
vornehmen. Damit kann der Meteorologe Gebiete eingrenzen, in denen
mit Gewittern zu rechnen ist und welcher Gewittertyp dort am
wahrscheinlichsten ist.


Im Thema des Tages vom vergangenen Donnerstag (4. Juli), welches die
Einzelzelle als einfachste Gewitterform vorgestellt hat, wurde
bereits erklärt, dass Gewitter in erster Linie dazu dienen, große
vertikale Temperaturunterschiede in der Atmosphäre abzubauen. Dazu
steigt zunächst die warme bodennahe Luft im sogenannten
Aufwindbereich (engl. Updraft) in große Höhen auf. Als
Ausgleichsbewegung bildet sich im weiteren Verlauf ein Abwindbereich
(engl. Downdraft), in dem die kühlere Luft aus der oberen Troposphäre
Richtung Boden strömt.


Eine Einzelzelle besteht lediglich aus einem einzigen Auf- und
Abwindbereich und entsteht meist in einer Umgebung mit nur geringen
horizontalen Luftdruck- und Temperaturunterschieden, wodurch sich der
(meist schwache) Wind mit der Höhe kaum ändert. Bei der sogenannten
"Multizelle" handelt es sich hingegen um einen Zusammenschluss
mehrerer Gewitterzellen in verschiedenen Entwicklungsstadien mit
mehreren Auf- und Abwindbereichen (siehe Abbildung). Bildlich
gesprochen ist eine Multizelle eine große Gewitterfamilie, die sich
zu einem Mehrgenerationenhaushalt vereint hat.


Alles beginnt mit einer Gewitterzelle, bestehend aus Up- und
Downdraft. Diese Initialzelle wird - um beim Bild der Großfamilie zu
bleiben - auch als "Mutterzelle" bezeichnet (Zelle 1 in der Skizze).
Sie bildet sich in einer Umgebung mit horizontalen
Temperaturunterschieden. Entscheidend ist hierbei, dass dort der Wind
mit der Höhe zunimmt und dabei auch seine Richtung ändert -beides
zusammen bezeichnet man als vertikale Windscherung. (Auf die
thermodynamischen Hintergründe dieses Zusammenhangs soll an dieser
Stelle verzichtet werden und kann der interessierte Leser im
DWD-Lexikon unter dem Stichwort "Baroklinität" nachlesen.) Durch die
unterschiedlich starken Winde kann der Downdraft am Boden nicht wie
bei der Einzelzelle symmetrisch ausfließen. Auf der warmen Seite des
Gewitters (für den Experten: in gegensätzlicher Richtung zum
Schervektor) fließt der Downdraft besonders stark aus, wodurch sich
eine sogenannte Böenfront formiert. Diese erkennen Sie als Beobachter
daran, dass bereits vor dem aufziehenden Gewitter der Wind
schlagartig und böig auffrischt und dabei die Temperatur abrupt
sinkt. Die kalte und damit schwerere Luft (engl. Outflow) schiebt
sich "mit Schmackes" unter die Warmluft, sodass letztere an der
Vorderseite der Böenfront gehoben wird. Der Aufwindbereich der
zweiten Gewitterzelle, der sogenannten "Tochterzelle", ist hiermit
geboren, während sich der Updraft der Mutterzelle wieder abschwächt.
Durch den zusätzlichen Hebungsantrieb der ausfließenden Kaltluft
fällt der Updraft der Tochterzelle oftmals stärker aus als der der
Mutterzelle. Da bei moderater Windscherung der Outflow mächtiger als
die nach oben nachströmende Warmluft (engl. Inflow) ist, läuft auch
dieser Updraft in den Kaltluftbereich und schwächt sich ab. Unter
günstigen Bedingungen können sich entlang der Böenfront mehrfach
hintereinander neue Tochterzellen bilden (Zellen 3 bis 5). Die
heftigsten Niederschläge treten dabei im Bereich des stärksten Up-
und Downdrafts hinter der Böenfront auf (Zelle 3 in der Skizze).


Große horizontale Temperaturänderungen findet man zum Beispiel
entlang einer Kaltfront. Im Sommer entsteht allerdings häufig schon
im Vorfeld der Kaltfront, also noch im Warmluftbereich, ein flaches
rinnenförmiges Tief, in das am Boden von beiden Seiten entlang einer
Konvergenzlinie die Luft zusammenströmt und zum Aufsteigen gezwungen
wird. Durch diese zusätzliche Hebung entwickeln sich dort oft die
ersten Gewitter. Da vor der Kaltfront weiterhin Warmluft einfließt,
nimmt der Wind mit der Höhe nicht nur zu, sondern wird zusätzlich
nach rechts in Richtung der wärmsten Luft abgelenkt. Dies führt dazu,
dass die Tochterzellen meist an der rechten Flanke der alternden
Zellen entstehen, sodass die Verlagerung des Gewitterkomplexes
diskontinuierlich wirkt und bezüglich der mittleren großräumigen
Strömung nach rechts Richtung der wärmster Luft ausschert.


Multizellen sind in Mitteleuropa die am häufigsten vorkommende
Gewitterform. Sie besitzen einen Durchmesser von ca. 15 bis 30
Kilometern und können im Extremfall mehrere Stunden existieren,
wohingegen die einzelnen Zellen des Gewitterkomplexes wie bei der
Einzelzelle nur etwa 10 bis 60 Minuten bestehen. Ihre Dynamik ist
wesentlich stärker, sodass die Wettererscheinungen heftiger als bei
der Einzelzelle ausfallen. Dabei kommt es entlang der Böenfront zu
Sturmböen sowie zu heftigem Starkregen mit Gefahr lokaler
Überschwemmungen und mittelgroßem Hagel. In seltenen Einzelfällen
verursachen Multizellen auch schwache Tornados.


Im nächsten Teil dieser Serie geht es dann um die Superzelle...


Dr. rer. nat. Markus Übel (Meteorologe)
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 06.07.2019

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