Thema des Tages

21-12-2016 14:40

Wenn ein Schmetterling mit seinen Flügeln schlägt...

Es war die Zahl 0,506127, die das Weltbild der Naturwissenschaften
revolutionieren sollte. Im Jahre 1963 gab der US-amerikanische
Mathematiker und Meteorologe Edward Lorenz diese Ziffernfolge als
Startwert für ein Wettervorhersagemodell in einen Computer ein. Als
er die Simulationen noch einmal für einen längeren Zeitraum starten
wollte, gab er 0,506 (also drei statt sechs Dezimalstellen) ein, um
Rechnerzeit zu sparen. Für Lorenz sehr überraschend ergaben sich
schon nach kurzer Simulationszeit Unterschiede zur ursprünglichen
Rechnung. Zunächst vermutete er einen Fehler im Rechner, entdeckte
aber dann, dass der Grund für die Abweichung in der
Rundungsungenauigkeit lag. Winzige Abweichungen beim Anfangszustand
können also zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen - oder wie
man sprichwörtlich sagen würde: kleine Ursache, große Wirkung.

Diese (wie in der Wissenschaft so häufig) zufällige Entdeckung war
der Ursprung der Chaos-Theorie, die als dritte Revolution in der
Physik des 20. Jahrhunderts gilt, nach der Relativitätstheorie und
der Quantenphysik (siehe auch "Als die Welt unscharf wurde"
https://www.dwd.de/DE/wetter/thema_des_tages/2016/12/5.html).

Diese neue Erkenntnis war auch für die Wettervorhersage bahnbrechend,
denn bisher ging man davon aus, dass die Qualität der Vorhersagen
einzig durch Modellfehler und Fehler in den Anfangsbedingungen (d.h.
im aktuellen Zustand der Atmosphäre) beschränkt sei. Nun aber war
klar, dass auch im Falle eines perfekten Modells und beliebig kleiner
Fehler in den Anfangsbedingungen allein schon durch die chaotische
Natur unserer Atmosphäre eine prinzipielle Grenze der
Vorhersagbarkeit besteht.

Für einen Vortrag im Jahr 1972 wählte Lorenz den Titel "Kann der
Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas
auslösen?" und prägte damit den populären Begriff des
"Schmetterlingseffekts". Seine Antwort auf diese provokative Frage:
Der Schmetterling könne, wenn er einen Tornado auslösen könne, diesen
auch genauso gut verhindern. Es ist also unmöglich, über einen
gewissen Zeithorizont hinaus ein nichtlineares (also chaotisches)
System wie die Strömungen der Atmosphäre, und somit auch das Wetter,
genau vorherzusagen.

Als anschauliches Beispiel für chaotisches Verhalten kann eine
Buckelpiste herangezogen werden (siehe Grafik): Sechs Kugeln, deren
Anfangspositionen sich nur um 1 mm unterscheiden, werden an das obere
Ende einer 60 m langen Buckelpiste gesetzt und rollen hinunter. Am
unteren Ende der Buckelpiste sind die Kugeln bis zu 15 m voneinander
entfernt, das ist mehr als 10.000 Mal des anfänglichen Abstands! Wir
können uns nun vorstellen, dass eine Kugel, die am Ende der Piste
links ankommt eine Prognose für "schönes Wetter" darstellt, und eine
Kugel, die rechts unten ankommt "unfreundliches Wetter". Da wir das
aktuelle Wetter beim Start der Vorhersage nicht genau kennen (in
Wüsten, auf Ozeanen oder insgesamt auf der Südhalbkugel sind
meteorologische Messstationen nämlich eher rar gesät), wissen wir
übertragen auf das Beispiel der Buckelpiste nicht auf den Millimeter
genau, wo wir die Kugel am oberen Ende der Piste loslassen sollen.
Die Grafik zeigt, dass diese Unsicherheit zu Beginn der Vorhersage
(d.h. auf den ersten 20 m) kaum eine Rolle spielt; die Bahnen liegen
sehr nahe beieinander. Nach einer gewissen Zeit divergieren sie
jedoch und das Ensemble aller Kugeln deutet mit etwa gleicher
Wahrscheinlichkeit auf schönes bzw. unfreundliches Wetter hin.

Eine deterministische Wettervorhersage (d.h. eine einzige Kugel) kann
diese Unsicherheit der Vorhersage nicht erfassen. Deshalb arbeiten
wir Meteorologen häufig mit Ensemble-Vorhersagen (wir schauen uns
also viele Kugeln mit leicht unterschiedlichen Anfangswerten an), die
es sowohl möglich machen, verschiedene Szenarien der
Wetterentwicklung, als auch den Zeithorizont zu bestimmen, ab dem die
einzelnen Vorhersagen voneinander abweichen, d.h. die
deterministische Vorhersage unsicher wird.

Wer beim nächsten Grübeln über ein Problem oder eine Aufgabe das
Gefühl hat, nur noch "Chaos" im Kopf zu haben, sollte nicht verzagen,
sondern vielmehr an die Worte Albert Einsteins denken: "Nichts kann
existieren ohne Ordnung. Nichts kann entstehen ohne Chaos."

Dipl.-Met. Magdalena Bertelmann
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 21.12.2016

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