Thema des Tages
17-02-2024 13:20
Wissenschaft kompakt
Julianenflut
Der 17. Februar ist gerade an der Nordseeküste historisch negativ
belastet. Wieso, weshalb, warum? Das beleuchten wir heute einmal
genauer.
Winterzeit ist Sturmzeit. Das liegt daran, dass sich zum
Winterhalbjahr mit abnehmendem Sonnenstand in der Regel starke
Temperaturgegensätze zwischen polaren Breiten und den Subtropen
aufbauen. Die Natur ist nun bestrebt, mit der Entstehung von
Tiefdruckgebieten, die auf der Vorderseite die milden Luftmassen
polwärts und rückseitig die kalten Luftmassen südwärts zu
transportieren und damit die Gegensätze auszugleichen. Ansonsten
würden die Tropen schlicht "überhitzen" und die Arktis immer kälter
werden. Unter Berücksichtigung des Klimawandels gilt das noch immer,
wenngleich aus Prognostikerperspektive jüngst häufiger zu beobachten
ist, dass sich die Qualität der Luftmassen zur wärmeren Seite
verschieben (Kaltluft arktischen Ursprungs ist seltener involviert)
und die Zugbahnen der Zyklonen brechen seltener weit nach Süden
Richtung Mittelmeer aus. Für die aktuell deutlich zu milde Witterung
mit einem überaus aktiven Atlantik, auf dem sich zahlreiche
Tiefdruckgebiete tummeln, ist die Sturmneigung an den Deutschen
Küsten derzeit überraschend gering.
Dass es an einem 17. Februar auch deutlich anders geht, verrät ein
Blick in die Geschichtsbücher. Im Jahre 1164 - und damit vor ziemlich
genau 860 Jahren - ereignete sich die erste, konkret überlieferte
Sturmflut an der Deutschen Nordseeküste. Sie ging als sogenannte
"Julianenflut" in die Geschichtsbücher ein. Der Name rührt daher,
dass der 16. Februar, an dem das Ereignis begann, der Namenstag der
Heiligen Juliana von Nikomedia, dem heutigen Izmit bei Istanbul. Als
Heilige und Märtyrin der frühen Kirche erlitt sie das Martyrium im
Jahre 304. Aufgewachsen in einer heidnischen Familie, die von
Religion nicht wissen wollte, wurde sie als bekennende Christin
schließlich vom eigenen Vater den Christenverfolgern unter den
Kaisern Diokletian und Maximian ausgeliefert und enthauptet nachdem
sie die Folter ertragen hatte. Die Verehrung der Heiligen Juliana war
im Mittelalter weit verbreitet, besonders in den Niederlanden. Zu
dieser Zeit wurde sie Patronin bei Entbindungen und Krankheit.
Im Mittelalter wurden schwere Sturmfluten üblicherweise von
klerikalen Würdenträgern beschrieben und von diesen nach dem
jeweiligen Tagesheiligen benannt. Damalige Chronisten berichteten
übereinstimmend von etwa 20000 Opfern! Auch der Pfarrer Helmold von
Bosau/Holstein erwähnt in seiner zwischen 1163 und 1168 entstandenen
"Chronica Slavorum" (Slawenchronik) die hohe Opferzahl. Bis ins ferne
Köln sprach sich die Nachricht herum. Die Annalen des am Harz
gelegenen Klosters Pöhlde berichten darüber. Dazu seien etliche
tausend Nutztiere qualvoll verendet. Ganze Küstengebiete in Friesland
und die bis 1932 als Kreis geführte historische Landschaft Hadeln an
der unteren Elbe wurden überschwemmt. Im Mündungsgebiet der Jade und
der Maade bildeten sich erste Einbrüche, eine Art Vorstufe zum
heutigen Jadebusen.
Trotz des um 1100 schon weit vorangeschrittenen Deichbaus an der
Küste, konnten die Dämme den Wassermassen nicht standhalten. An
vielen Stellen brachen diese, so dass das Wasser ungeschützt ins
Hinterland eindringen und zahlreiche Häuser, Stallungen und ganze
Ortschaften zerstörten konnte.
Die Julianenflut blieb in Friesland lange unvergessen. Noch 55 Jahre
später erwähnte sie der Mönch Emo von Wittewierum. Sein Bericht über
die Marcellusflut von 1219 ist die älteste überlieferte Schilderung
einer Hochwasserkatastrophe durch einen Augenzeugen: "O Kummer und
Betrübnis, zu sehen, wie die Menschen in den Fluten hin und
hergeworfen wurden, als wären sie Meeresgetier. Bei dieser Sintflut
sind tausende Männer, Frauen und Kinder untergegangen und auch
Kirchen sind zerstört worden." Erst nach 1200 schützte eine
durchgehende Deichlinie die Küsten zwischen Westfriesland und
Dänemark. Doch auch sie konnte nicht verhindern, dass immer wieder
ganze Landstriche in den Fluten versanken.
Wie es der Zufall wollte, brach die Große Sturmflut von 1962
ebenfalls an einem 17. Februar über die deutsche Nordseeküste herein.
Insgesamt gab es dabei 340 Todesopfer, davon 315 in Hamburg, das
außergewöhnlich schwer betroffen war. Der Pegel in St. Pauli stieg
auf 5,70 Meter über Normalnull, so hoch wie nie zuvor. Hamburgs
Binnendeiche brachen an 60 Stellen, 200 Millionen Kubikmeter Wasser
überfluteten Marschen und tiefer liegende Stadtviertel. Ein Sechstel
Hamburgs meldete: Land unter! Marode, technisch veraltete und zu
niedrige, an den Hochwasserpegeln des 19. Jahrhunderts bemessene
Deiche waren die Ursache für die Katastrophe. Seitdem ist viel
passiert, wurde das Küstenschutzkonzept neu ausgerichtet. Heutzutage
sind die Deiche stabiler und höher, einen 100-prozentigen Schutz
können aber auch sie nicht garantieren.
Ein derart schweres Sturmereignis droht in den kommenden Tagen
glücklicherweise nicht. Zwar ist es an der Nordsee jahreszeitenüblich
zeitweise sehr windig, von wahrhaftig stürmischen Zeiten kann aber
keine Rede sein. Erst zur Mitte der nächsten Woche könnte sich ein
(voraussichtlich kleineres) Sturmevent anbahnen, dann aber mit Winden
aus südlichen Richtungen und damit für den Großteil der Nordseeküste
weniger dramatisch.
Dipl.-Met. Robert Hausen
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 17.02.2024
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