Thema des Tages
26-06-2023 14:20
Wissenschaft kompakt
Tornado! - Oder doch nicht?
Nach heftigen Unwetterereignissen wie am letzten Donnerstag
(22.06.2023) wird oft die Frage gestellt "War das ein Tornado?". Oft
lässt sich die Frage mit Nein beantworten. Es gibt noch ein anderes,
schadensträchtiges Gewitterphänomen.
Die Schwergewitterlage vom 22. Juni 2023 hatte es im Vorfeld schon in
sich. Der Wetterkochtopf war mit Zutaten gefüllt, die man als
Meteorologe in Deutschland in der Zusammensetzung nur selten zu
Gesicht bekommt. Neben hoher Labilität der Luftmasse (gebietsweise
über 2000 J/kg CAPE) und Feuchte (teils über 40 mm
Flüssigwassergehalt) kam auch noch eine ordentliche Portion
Windscherung (Windänderung mit der Höhe) mit dazu. Neben 50 bis 60
Knoten Scherung bis in die mittlere Troposphäre (6 km) war auch die
Scherung in der Grundschicht zwischen 0 und 1 km Höhe teils deutlich
ausgeprägt. Das lässt die Alarmglocken schrillen, denn in dieser
Zusammensetzung steht der Bildung von Superzellen und damit auch
möglichen Tornados kaum noch etwas im Wege.
Für diese Zusammensetzung verantwortlich war unter anderem ein
ausgeprägtes Bodentief, welches Deutschland im Tagesverlauf von West
nach Ost überquerte. Die daran gekoppelte Winddrehung begünstigte die
Entstehung von Superzellen enorm. Gleichzeitig sorgte das Bodentief
dafür, dass sich diese Gewitter auch bilden konnten.
So kam es dann letztendlich auch. Das Rennen machte dabei eine
Superzelle, die sich im Umfeld des Rheintales und des Siebengebirges
bildete, und anschließend von dort über das Rothaargebirge nach
Nordhessen und Kassel, und von dort weiter Richtung Südniedersachsen
in Richtung Berlin zog. Von dieser "Zelle des Tages" haben Sie
vielleicht in den Nachrichten gehört oder gelesen. Sie brachte unter
anderem in Kassel schwere Überschwemmungen durch heftigen Starkregen,
großen Hagel (5 bis 6 cm wurden durch Beobachtungen in der
WarnWetter-App des DWD dokumentiert) und Orkanböen. Diese drei
Begleiterscheinungen in Kombination führen im Moment des Auftretens
zu einem wüsten und chaotischen Bild für den Beobachter. Bei
Sichtweiten von nahezu Null werden Niederschlag und Hagel in
Orkanstärke durch die Straßen geweht und vermischen sich mit Laub,
Dreck und Trümmern, die ebenfalls durch die Luft fliegen.
Das ist ein extremes Ereignis, was in der Form recht selten auftritt.
Dementsprechend fehlen beim Beobachter die Erfahrungswerte und er
fragt sich berechtigterweise, was ihm da wohl gerade widerfahren sei.
Eine der möglichen Erklärungen ist dann folgerichtig: "Das muss ein
Tornado gewesen sein!" Tatsächlich verhält sich die ganze
Angelegenheit etwas komplizierter. Es gibt noch eine weitere
Begleiterscheinung an Superzellen, die derartige Phänomene
produziert: Den Downburst.
Von einem Downburst werden bis jetzt vermutlich nur wenige von Ihnen
schon einmal etwas gehört haben. Das ist auch kein Wunder, in den
medialen Darstellungen wird dieses Phänomen auch oft etwas
stiefmütterlich behandelt, bzw. ist es auch einfach unbekannt. Aber
damit ran an den Kern des Problems: Als Downburst wird ein extrem
starker Fallwind aus einer Gewitterzelle bezeichnet. Dieser Fallwind
prallt aus der Höhe auf den Boden auf und wird dann nach
verschiedenen Seiten abgelenkt. Dies geht oft gleichzeitig mit sehr
heftigem Niederschlag und/oder Hagel einher. Die auftretenden Böen in
einem solchen Downburst erreichen dabei Orkanstärke, oft im Bereich
120 bis 140 km/h. Im Extremfall können aber sogar Geschwindigkeiten
von 180 bis 200 km/h erreicht werden. Welchen Schaden ein solcher
Wind anrichtet, kann man sich sicher selber ausmalen.
Der Entstehungsprozess eines Downbursts ist dabei relativ einfach zu
erklären. Im klar strukturierten Abwind-Bereich einer Superzelle
fällt sehr viel Niederschlag in eine - mitunter bis zu 2 km dicke -
trockene Grundschicht. Dabei verdunstet ein Teil des Niederschlags
und kühlt die Umgebungsluft ab. Diese wird durch die Abkühlung
spezifisch schwerer und wird dadurch zusätzlich nach unten
beschleunigt, während weiterhin Niederschlag verdunstet. Diese
Beschleunigungskaskade setzt sich nach unten fort, bis entweder kein
Niederschlag mehr übrig ist (trockener Downburst), der verdunsten
kann, oder bis der Boden erreicht ist (nasser Downburst).
Anschließend werden die erreichten Windgeschwindigkeiten horizontal
umgelenkt und breiten sich entlang des Bodens weiter aus.
Von einem Tornado lässt sich ein solcher Downburst für den normalen
Beobachter quasi nicht unterscheiden. Hinweise geben im Nachhinein
einerseits die Wetterlage selbst, als auch die Art und Weise der
aufgetretenen Schäden. Bei einem Tornado finden sich oft chaotische
Schadensbilder, unter anderem liegen Baumstämme auf kleinstem Raum
kreuz und quer verstreut. Bei einem Downburst treten die Schäden eher
linear auf. Zum Beispiel werden dabei Schneisen umgestürzter Bäume in
Wälder geschlagen, wobei die Fallrichtung aber meist in dieselbe
Richtung zeigt. Diese Schneisen können dabei zwischen mehreren
hundert Metern bis hin zu mehreren Kilometern breit sein.
Es bleibt festzuhalten, dass ein aufgetretener Tornado im Nachgang
nur bestätigt werden kann, wenn entsprechende Beobachtungen und
Bildmaterial vorliegen. Entweder wurde der Tornado aus der Distanz
als solcher beobachtet (klar zu erkennender "Rüssel" mit
nachweisbarem Bodenkontakt), oder aber er wird durch ein entsprechend
gesichertes und begutachtetes Schadensbild dokumentiert. Im Falle der
Schwergewitterlage vom 22. Juni 2023 wurden Schäden in erster Linie
durch Downbursts verursacht. Einerseits waren diese schon sehr gut im
Dopplerradarbild zu erkennen, andererseits lagen an diesem Tag durch
eine ebensolche vorhandene trockene Grundschicht die
Wolkenuntergrenzen oftmals zu hoch, um einen Tornado produzieren zu
können. Dafür war die trockene Grundschicht für genau ebenjene
Downbursts prädestiniert.
M.Sc. Felix Dietzsch
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 26.06.2023
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