Thema des Tages

29-05-2023 13:20


Wissenschaft kompakt
Clear Air Turbulence - die unsichtbare Gefahr

Jeder, der schon mal mit dem Flieger in den Urlaub oder auf
Geschäftsreise unterwegs war, kennt die Durchsage: "Bitte bleiben sie
angeschnallt! Es können jederzeit unerwartet Turbulenzen auftreten."
Doch woher kommen die Turbulenzen und wie unerwartet sind diese
heutzutage noch?

Aktuell ist die Warnkarte des Deutschen Wetterdienstes nahezu leer.
Auch letzten Donnerstag, den 25.05.2023 gab es in keinem einzigen
Landkreis eine Wetterwarnung. Ruhige Zeiten also für die Meteorologen
im Vorhersagedienst. Letzten Donnerstag traf das aber nicht auf alle
Bereiche in der Meteorologie zu. Im Flugwetterdienst war nämlich
einiges los. Ein Kaltlufttropfen sorgte in der Höhe für starke
Turbulenzen. Am Boden bekommt man davon nichts mit. Für die Luftfahrt
sind das aber wichtige Informationen. Durch die Warnung vor starker
Turbulenz werden die meteorologische Sicherheit der Luftfahrt
gewährleistet und Flugrouten optimiert. Wie kam es genau zu den
Turbulenzen und wie werden diese prognostiziert?

Clear Air Turbulence (CAT) oder auf Deutsch Klarluftturbulenz ist mit
dem bloßen Auge nicht zu sehen, da es sich um Turbulenz in
wolkenfreier Luft handelt. Die CAT wird durch das Aufeinandertreffen
von signifikant andersartigen Luftmassen verursacht, die sich mit
stark unterschiedlichen Geschwindigkeiten in Höhen oberhalb 6
Kilometern bewegen. Durch den ungleichen Charakter der Luftmassen
entsteht an der Zone des Zusammentreffens ein Bereich erhöhter
Windgeschwindigkeiten auch Jetstream genannt. Die horizontale
Erstreckung von Gebieten mit CAT liegt bei 80 Kilometern, kann sich
aber auch auf einen Bereich bis 500 Kilometer erstrecken. Die
vertikale Ausdehnung beträgt im Mittel 600 Meter. Die unteren
Grenzwerte liegen bei 20 bis 30 Metern. Diese Art von Turbulenz ist
besonders gefährlich für die Luftfahrt, da sie im Gegensatz zu
anderen Wetterphänomenen, wie zum Beispiel Gewittern oder Vereisung,
weder mit dem bloßen Auge noch mit Radar geortet werden kann. Die
Turbulenzen sind aber meist zu schwach, um ein Verkehrsflugzeug stark
zu beschädigen oder zu zerstören. Es kam jedoch schon zu kleineren
Beschädigungen an Luftfahrzeugen sowie zu verletzten Passagieren
(meist nicht angeschnallt).

Letzten Donnerstag gab es einen typischen Fall für CAT. In der
unteren Troposphäre herrschte Hochdruckeinfluss vor. Ein kräftiges
Hoch über den Britischen Inseln streckte einen Keil über Deutschland
hinweg bis nach Südosteuropa. In der mittleren und oberen Troposphäre
zirkulierte jedoch zwischen Frankreich und dem Südwesten Deutschlands
ein Kaltlufttropfen. Die unterschiedlichen Luftmassen sind im
Luftmassen RGB (Abbildung 1) gut zu sehen. Im rot gefärbten Bereich
ist die Luftmasse sehr trocken und kalt. Während über dem Südosten
Deutschlands eine warme und feuchte Luftmasse vorherrschte (in der
Abbildung bläulich). Die unterschiedlichen Eigenschaften der
Luftmassen werden auch in den Radiosondenaufstiegen von
Idar-Oberstein und Oberschleißheim deutlich. Der Aufstieg von
Idar-Oberstein erfolgte in der trockenen und kalten Luftmasse (im
roten Bereich), während das Vertikalprofil von Oberschleißheim die
wärmere und feuchtere Luftmasse repräsentiert (Abbildung 2). An der
Grenze zwischen den unterschiedlichen Luftmassen entwickelte sich ein
Starkwindband. Im ICON6-Modell konnte man die simulierten
Windgeschwindigkeiten des Jetstreams an der Nordwestflanke des
Kaltlufttropfens mit Spitzengeschwindigkeiten von 120 Knoten (etwa
220 Kilometer pro Stunde) gut erkennen. (siehe Isotachen-Darstellung
in Abbildung 3

Die Zutaten für starke Turbulenz in der Troposphäre waren also
gegeben. Es gab zwei signifikant unterschiedliche Luftmassen in der
Höhe. Und es hat sich im Grenzbereich der beiden Luftmassen ein
Jetstream entwickelt. Wo genau sich jetzt die CAT-Zone befindet,
lässt sich durch die Zusammenschau von Radiosondenaufstiegen und
Satellitenbilder verifizieren. Doch um bereits vor dem Ereignis
warnen zu können, werden numerische Vorhersagemodelle herangezogen.
Dabei sind zum einen die Windprognosen in unterschiedlichen
Höhenstufen wichtig. Zum anderen wird aber auch die Berechnung des
Eddy Dissipiation Parameters zu Rate gezogen. Der Eddy Dissipitation
Parameter (EDP) wird aus der berechneten turbulenten kinetischen
Energie hergeleitet. Der Parameter wurde bereits jahrelang
verifiziert und mit Meldungen aus dem Cockpit sowie Messungen durch
spezielle Mess-Flugzeuge verglichen. Inzwischen ist die
Bereitstellung des EDP für die Luftfahrt operationalisiert und wird
als Grundlage zur Turbulenzeinschätzung für die Luftfahrt
routinemäßig herangezogen. Auch letzten Donnerstag haben die
Berechnungen des EDP ein Gebiet mit starker Turbulenz über
Deutschland prognostiziert. (Abbildung 4)

Die Zusammenschau der vorliegenden Messungen und numerischen
Modellparameter führte letztendlich zur Ausgabe einer Warnung vor
einer signifikanten meteorologischen Erscheinung für die Luftfahrt -
kurz SIGMET abgekürzt. Da Wetterphänomene sowie der innereuropäische
und internationale Luftverkehr nicht an politischen Grenzen enden,
ist eine Absprache mit den angrenzenden Wetterdiensten von großer
Bedeutung. Dies beugt Irritationen durch widersprüchliche
Wetterinformationen vor. In diesem Fall hat die Region der starken
Turbulenz nicht nur den deutschen Luftraum beeinflusst, sondern auch
den französischen. Dank der Absprache zwischen der Flugwetterzentrale
des Deutschen Wetterdienstes in Frankfurt mit dem Büro der Météo
France in Toulouse, wurde eine einheitliche Warnung vor schwerer
Turbulenz in einem Bereich zwischen Flughöhe 250 und 340 (also
zwischen 7500 Metern und 10000 Metern über NN) ausgegeben.

So unerwartet wie vielleicht angenommen, treten die Turbulenzen also
gar nicht mehr auf. Die numerischen Modelle können schon viele der
unsichtbaren Turbulenzbereiche prognostizieren. Und auch
Satellitenmessungen geben Auskunft über Gefahrenbereiche, auch wenn
diese nicht durch auffällige Wolkenformationen gekennzeichnet sind.
Durch die Warnungen können Piloten den größeren Gebieten gefährlicher
Turbulenzen ausweichen, sodass es oft gar nicht mehr so turbulent im
Flieger wird. Es ist jedoch wohl weiterhin ratsam, angeschnallt zu
bleiben.


MSc Sonja Stöckle
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 29.05.2023

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