Thema des Tages
01-10-2022 11:50
Wissenschaft kompakt
Atmosphärische Gezeiten
Auch die Atmosphäre verfügt über Gezeiten, jedoch überwiegend mit
anderer Herkunft als bei den Ozeanen. Wie das Zusammenspiel mit
meteorologischen Faktoren und Parametern funktioniert, wird im
Folgenden kurz erläutert.
Im Thema des Tages vom 17.03.2022 wurde u.a. auf die Auswirkungen der
Anziehungskräfte des Mondes auf die Ozeane und die Entstehung der
Gezeiten hingewiesen
(https://www.dwd.de/DE/wetter/thema_des_tages/2022/3/17.html). Im
folgenden Beitrag soll nun der mögliche Einfluss des Mondes und
anderer Faktoren auf das Entstehen atmosphärischer Gezeiten erörtert
werden.
Die Schwerkraft des Mondes wirkt auf die Atmosphäre genauso wie auf
den Ozean, aber der Einfluss der Mondgravitation auf die Atmosphäre
ist im Allgemeinen vernachlässigbar gering. Aufgrund der
unterschiedlichen Dichte und Komprimierbarkeit der Atmosphäre und des
Ozeans ist die Mondgravitation nicht in der Lage, nennenswerte Wellen
in der Atmosphäre zu erzeugen. Allerdings werden in der Atmosphäre
aufgrund der zyklischen Erwärmung durch die einfallende
Sonnenstrahlung ebenso Gezeitenwellen erzeugt. Für die Zwecke dieser
diskreten Gezeitenschwankungen ist die wesentliche Wärmequelle
diejenige, die durch die fast vollständige Absorption der
kurzwelligen UV-Strahlung (ultravioletter Anteil der Sonnenstrahlung)
innerhalb der Ozonschicht entsteht. Die Erwärmung der Ozonschicht
tagsüber und die anschließende Abkühlung in der Nacht führt zu
Veränderungen in der Dichte der Atmosphäre, die wiederum eine Welle
erzeugt, die sich nach unten zur Oberfläche hin ausbreitet und sich
mit der gleichen Geschwindigkeit um den Globus bewegt, wie sich die
Sonne über den Himmel zu bewegen scheint. Da diese Welle an den Lauf
der Sonne gekoppelt ist, bedeutet letzteres, dass die entsprechenden
atmosphärischen Luftdruckschwankungen (vergleichbar mit der
ozeanischen Ebbe und Flut) jeden Tag zur gleichen Zeit an einem
bestimmten Ort auftreten. Es stellt sich vereinfacht gesagt heraus,
dass die signifikanteste Welle eine Periode von einem halben Tag hat,
was wiederum bedeutet, dass diese atmosphärischen Ebbe- und
Flutwellen (entsprechend niedriger und höherer Luftdruck in
Meereshöhe) zweimal pro Tag auftreten.
Nun stellt sich die Frage, wie sich diese Gezeitenwellen in der
Atmosphäre manifestieren, wie sie beobachtet werden und welche
Auswirkungen sie haben. Zunächst erkennt man die Gezeiten an
Schwankungen des Luftdrucks, gemessen oder reduziert auf
Meeresspiegelhöhe. Durch diesen Gezeiteneffekt kommt es zweimal
täglich entsprechend zu höheren und tieferen Werten des Luftdrucks.
Diese Schwankungen lassen sich am besten in tropischen Breitengraden
beobachten, während sie in den gemäßigten und höheren Breitengraden
nur schwer zu beobachten bzw. auszumachen sind. Hierfür gibt es zwei
Gründe. Erstens ist die Sonneneinstrahlung pro Flächeneinheit in den
tropischen Breiten größer, so dass der Antrieb für die
Gezeitenbewegungen in diesen Gebieten stärker ist. Zweitens verdecken
bzw. überlagern stärker ausgeprägte (dynamische) Druckgebilde (und
deren Migration) sowie zugehörige Fronten bei Tiefdruckgebieten in
mittleren und hohen Breiten häufig die durch atmosphärische Gezeiten
verursachten Druckschwankungen. In den Tropen hingegen sind
signifikante synoptische Druckgebilde mit Ausnahme der Passage
tropischer Stürme eher selten, was wiederum bedeutet, dass die von
Tag zu Tag auftretenden Druckschwankungen weitgehend auf die
atmosphärischen Gezeiten zurückzuführen sind.
Abbildung 1 zeigt gemessene Werte des Luftdrucks in Meeresspiegelhöhe
für mehrere Tage im Zeitraum Anfang August 2017 von einer Wetterboje
in der östlichen zentralen Karibik, etwa 180 Meilen süd-südwestlich
von Puerto Rico. In diesem Bild ist die Luftdruckschwankung aufgrund
der atmosphärischen Gezeiten deutlich erkennbar, überlagert von
geringen anderen Änderungen des Luftdrucks in Meeresspiegelhöhe über
einen Zeitraum von fünf Tagen. Zu erkennen ist hierbei, dass die
Druckminima täglich um 0900 GMT (Greenwich Mean Time) und 2100 GMT
auftreten, also um 5 und 17 Uhr Ortszeit. Die Druckmaxima treten
täglich um 1500 GMT und 0300 GMT auf, d. h. zwischen 11 und 23 Uhr,
was ebenfalls den prinzipiellen Erwartungen zum Tagesgang des
Luftdrucks entspricht. Der Unterschied zwischen dem höchsten und dem
niedrigsten Luftdruck beträgt in etwa zwischen 1 und 3 mbar bzw. hPa
(Millibar bzw. Hektopascal).
Auf diese Weise liefern atmosphärische Gezeiten beim Fehlen
überlagerter Luftdruckschwankungen durch die Passage von synoptischen
Druckgebilden gerade im Bereich der Tropen einen wesentlichen Beitrag
zum Tagesgang des Luftdrucks in Meereshöhe.
Dipl.-Met. Dr. Jens Bonewitz
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 01.10.2022
Copyright (c) Deutscher Wetterdienst