Thema des Tages

26-03-2022 08:50

H2O - Sprengstoff und Kleber zugleich

Kaum ein Stoff ist so facettenreich wie unser Wasser. Besonders im
Spätwinter und Frühling kann es zeigen, welche "Kraft" in ihm steckt.


Bewegt man sich auf den Straßen in orographisch etwas gegliedertem
Gelände (besonders in den Mittelgebirgen und alpinen Regionen),
zählen Sicherungsarbeiten an Böschungen oder Felshängen zu den
typischen Begleiterscheinungen des Frühlings. Nach einem mehr oder
weniger harten Winter müssen die verschiedensten Verkehrswege vor den
möglichen gravitativen Gefahren durch herabstürzendes loses Geröll
oder gar Felsen geschützt werden. Immerhin können bei solchen
Vorgängen im Extremfall auch Menschenleben gefährdet werden. Doch
welche physikalischen Prozesse stecken hier dahinter?

Der "Hauptübeltäter" kann dabei sehr schnell ausgemacht werden: Es
ist, wie häufig bei atmosphärischen oder geowissenschaftlichen
Vorgängen, maßgeblich das Molekül Wasser mit seinen teils atypischen
Eigenschaften daran beteiligt. Im Gegensatz zu vielen anderen Stoffen
hat Wasser seine höchste Dichte bzw. seine geringste Ausdehnung bei
+4 Grad Celsius und vergrößert ab diesem Wert sein Volumen bei
sinkender (und steigender) Temperatur ("Dichteanomalie des Wassers").
Diese Eigenschaft spielt etwa auch eine große Rolle bei schwimmendem
Eis, der thermischen Schichtung von Binnenseen und den thermohalinen
Zirkulationen in den Weltmeeren. Doch heute beschäftigten wir uns mit
der sogenannten "Frostsprengung", auch als "Kryoklastik" bezeichnet.

In Regionen mit teils festen Niederschlägen (Schnee) und/oder
Temperaturen, die häufig zwischen positiven und negativen Werten
wechseln, spielt diese Art der Gesteinsverwitterung eine bedeutende
Rolle. Damit sind die polaren und die (kalt-) gemäßigten Klimazonen
sowie das alpine Gelände prädestiniert für solche Vorgänge. Dringt in
teils zerklüftetes Gestein flüssiges Wasser ein, kann dieses den
Porenraum aufgrund seiner Eigenschaften sehr gut ausfüllen. Gefriert
nun dieses Wasser, dehnt es sich aber aufgrund der vorhin
geschilderten Eigenschaften um bis zu ca. 9 % aus. Mit dieser
Volumenausdehnung in den Hohlräumen steigt damit natürlich auch der
Druck innerhalb des Gesteins. Dabei sind Werte von bis zu 220 MPa
(Mega-Pascal, Maximum bei ca. -22 Grad Celsius) möglich. Ist nun ein
für das jeweilige Material kritischer Wert erreicht, entlädt sich
dieser Druck mittels Sprengung des Gesteins. Minerale mit guter
Spaltbarkeit, wie Glimmer, Feldspate oder Quarze, verwittern damit
schneller als festere und weniger zerklüftete Gesteine. Im Gegensatz
zur chemischen Verwitterung ändert das Material bei dieser
physikalischen Verwitterung seine Stoffeigenschaften nicht - es wird
nur zerkleinert.

Doch warum lösen sich die Gesteine nun besonders im Spätwinter und im
Frühling von den etwas steileren Hängen? Dies ist relativ einfach
erklärt, denn Eis wirkt nicht nur als "Sprengmittel", sondern auch
als sehr guter "Kleber". Das Gestein wird während des Winters beim
Gefrierprozess zwar bereits aufgebrochen, kann sich aber aufgrund der
Bindekraft des Eises noch nicht vollständig vom Muttergestein lösen.
Dies geschieht nun aber während der wieder milderen Jahreszeit mit
deutlich höheren Bestrahlungsstärken der Sonne. Außerdem unterstützt
der nun häufige Wechsel zwischen negativen und positiven Temperaturen
und den damit verbundenen unterschiedlichen Aggregatzuständen des
Wassers die Verwitterungsprozesse. Dabei gilt es aber bei der
Gefahrenbeurteilung die teils deutlichen Unterschiede zwischen der
Sonnenseite (der Sonne zugewandten Hangflanke) und der Schattenseite
mit teils verzögerten Prozessen (u.a. länger anhaltende Schneedecke
und unterschiedliche Temperaturverhältnisse) zu beachten.

Der "große Bruder" dieser Verwitterung sind die auftauenden
Permafrostbereiche des Hochgebirges. Dabei verliert das Gestein
ebenfalls durch den Phasenwechsel des Wassers seine innere Bindung.
Die in letzter Zeit häufiger dokumentierten massiven Felsstürze (bzw.
Bergstürze) zeugen von diesem Phänomen. Doch dies ist mehr ein Thema
des kurzen alpinen Hochsommers. Bei weiterem Interesse zum Permafrost
werden Sie sicherlich in unserem umfassenden Thema-des-Tages-Archiv
(https://t1p.de/e1qc2) fündig.

Mag.rer.nat. Florian Bilgeri
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 26.03.2022

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