Thema des Tages

10-12-2021 09:50

Heikle Lawinensituation in den Alpen


Der diesjährige Winterstart hat es bereits in sich. Seit Ende
November haben mehrere markante Niederschlagsereignisse die
Schneedecke in den Nordalpen wachsen lassen. Derzeit besteht in den
Alpen somit eine erhebliche, teils große Lawinengefahr mit
zahlreichen Gefahrenstellen.

In den letzten Jahrzehnten erlebte das Tourengehen einen regelrechten
Boom, der durch die Pandemie noch zusätzlich verstärkt wurde. Viele
Wintersportler schätzen die Freiheiten, die eine Skitour bietet - sei
es entlang der Pisten oder im freien Gelände. Für eine sichere
Tourenplanung ist es wichtig, ein Grundverständnis der Lawinenkunde
zu haben und die täglichen Einschätzungen der Lawinensituation der
Lawinenwarndienste zu studieren. Um ein bisschen Starthilfe zu geben,
schauen wir auf den bisherigen Schneedeckenaufbau und die damit
verbundenen Lawinengefahrenmuster.

In den alpinen Lagen brachte der Frühwinter in der ersten
Novemberhälfte zunächst nur wenige Niederschlagsereignisse, die zu
einer eher geringmächtigen Schneedecke führten. Zwischen den
Schneefällen und bis in die dritte Dekade dominierte häufig
Hochdruckeinfluss das Wettergeschehen. Bei diesen Perioden mit teils
nächtlichem sternenklaren Himmel strahlte die Schneedecke aus und
kühlte dadurch deutlich ab. Aufgrund großer Temperaturgegensätze
konnten sich die oberflächennahen Schichten der Altschneedecke
aufbauend umwandeln (siehe TdT zur Schneemetamorphose:
https://t1p.de/2z8n) und es setzte sich zusätzlich Oberflächenreif
ab. Die Schneedeckenoberfläche bestand somit aus kantigen, lockeren
Schneekristallen, deren Festigkeit untereinander im Allgemeinen
relativ gering ist.

Ab Ende November folgte die Umstellung zu einer von Tiefdruck
geprägten Wetterlage, die in mehreren Schüben teils markante
Neuschneemengen brachte. Vor allem in den mittleren und tiefen
Höhenlagen waren die Niederschlagsereignisse durch zeitweise
Warmlufteinschübe und schwankende Schneefallgrenzen geprägt. So
konnten sich auch innerhalb der Schneedecke zwischen den Schichten
der einzelnen Schneefallereignisse Temperaturgradienten ausbilden,
wodurch Umwandlungsprozesse begünstig wurden. Das heißt, nicht nur
die überdeckte Schwachschicht der spätherbstlichen Altschneedecke,
sondern auch neu entstehende Schwachschichten innerhalb der
Schneedecke bieten potentielle Bruchstellen für Lawinen. Dazu griff
auch der Wind als "Baumeister der Lawinen" ein und trug vor allem an
windgeschützten Stellen größere Triebschneepakete zusammen. Innerhalb
der Triebschneeansammlungen selbst weisen die Schneekristalle eine
hohe Bindung auf und bilden damit gefährliche Schneebretter aus. Mit
den Schwach- und Schneeschichten sind diese meist nur lose verbunden
und können durch Zusatzbelastung - etwa durch einen oder mehrere
Wintersportler - ausgelöst werden. Für Skitourengeher ist das
Erkennen von Triebschnee daher sehr wichtig. Ein Anzeichen für
Triebschnee kann eine dünenartig gewellte Schneeoberfläche sein.

Zuletzt brachte Tief HARRY diese Woche von Mittwoch auf Donnerstag
vor allem den nördlichen und zentralen Alpen - etwa von den Allgäuer
Alpen über weite Teile Tirols und Südtirols - noch einmal 20-40, in
einigen Staulagen bis 60 cm frischen Pulverschnee. Dabei sind durch
verbreitet starken bis stürmischen Wind die Triebschneeansammlungen
nochmals überall angewachsen. Durch den Neuschnee können sich im
Steilgelände spontane Lockerschneelawinen (siehe TdT vom 28.01.2020:
https://t1p.de/hnxw ) und bereits durch geringe Zusatzbelastungen
Schneebrettlawinen (siehe TdT vom 22.01.2020: https://t1p.de/r9kt )
lösen. Bei größeren Belastungen, etwa durch eine Skifahrergruppe,
können auch tieferliegende Schwachschichten gestört werden, sodass
auch mittelgroße Schneebrettlawinen abgehen können. Mit tiefen
Temperaturen und zeitweise starkem Wind kann sich die Schneedecke
vorerst nicht verfestigen und bleibt störanfällig. Außerdem kommt ab
heute im Tagesverlauf bis zum Samstag schwerpunktmäßig von Vorarlberg
und Westtirol bis ins Allgäu nochmals 10-20 Zentimeter Neuschnee
zusammen. Starker bis stürmischer Südwestwind erzeugte zusätzliche
Triebschneepakete. Ab Sonntag wird es mit einer Warmfront dann
durchgreifend wärmer und zumindest bis in mittlere Höhen wird durch
eintragenden Regen das Gewicht der Schneedecke erhöht und somit die
störanfälligen Schwachschichten zusätzlich belastet. Eine Entspannung
ist somit über das Wochenende nicht in Sicht.

Die Lawinenwarndienste in Bayern sowie bei den angrenzenden Nachbarn
in Tirol, Vorarlberg und auch in Südtirol haben für größer Bereiche
die Lawinengefahrenstufe erheblich (Stufe 3 von 5) ausgerufen (siehe
Lawinenwarndienst Bayern: https://t1p.de/iamt, Tirol/Südtirol:
https://t1p.de/v5ly). Für inneralpine Hochlagen wird die
Lawinensituation sogar als groß (Stufe) 4 erachtet. Für
Wintersportler - respektive Tourengeher - entspricht das einer
kritischen Situation. Zur Veranschaulichung: Stufe 3 wird im Schnitt
für etwa 30 Prozent der Zeit in der Wintersaison prognostiziert,
zeichnet sich aber für rund die Hälfte aller Todesopfer durch Lawinen
verantwortlich.

Für die Tourenplanung sollte man sich derzeit beziehungsweise
generell optimal vorbereiten, wenn man im freien Gelände unterwegs
sein möchte. Dabei sollte ab Stufe 3 auf eine defensive Routenwahl
mit Meidung von steilen Hanglagen gesetzt werden. Außerdem sollte die
passende risikomindernde Ausrüstung möglichst mit einem
Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS) mitgeführt werden. Unerfahrene
sollten besser auf den geöffneten Abfahrten oder Pisten bleiben.


M.Sc.-Met. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 10.12.2021

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